Der Titel klingt banal und verstörend zugleich. Es ist ein Zitat einer Blankeneserin aus den Jahren ihrer Kindheit 1933-45. Sie verstand es nicht, dass Nachbarn und Freunde quasi wie über Nacht plötzlich verschwanden. Dieser geschichtsträchtige Band beschäftigt sich in sieben Abschnitten mit dem Beginn der Judenverfolgung, über Deportation und Massenmord bis in die Nachkriegszeit und die Gegenwart samt den Formen des Gedenkens in Blankenese. Die Herausgeberinnen Friedemann Hellwig, Frauke Steinhäuser, Alan Kamer und Petra Bopp haben keine Mühe gescheut, akribisch zu recherchieren und auch mittels Interviews mit Zeitzeugen über die besagte Zeit und die Umstände zu berichten. Das war bisher ein blinder Fleck in Blankenese. Auf einer beigefügten Karte im Einband vorne und hinten sind Wohnorte jüdischer Blankeneser eingezeichnet sowie die Standorte wichtiger Einrichtungen, z.B. der Hachschara, einer zionistischen Organisation, die junge Jüdinnen und Juden ab den 1930ern angesichts der Verfolgung in Deutschland auf die Auswanderung nach Eretz Israel, u.a. in dem Fischereikibbutz Serubabel an der Elbe, vorbereitete. Dazu gehörte dann auch nach dem Krieg ab 1946-1948 das Warburg Children Health Home in der Villa der Warburgs auf dem Kösterberg. Hier wurden die überlebenden jüdischen Kinder und Jugendlichen nach der Shoa aus ganz Europa gesammelt und zugerüstet. Sie warteten auf Papiere für die Ausreise ins britische Mandatsgebiet Palästina/Israel. Der Film ‚Die Kinder von Blankenese‘ thematisiert das in eindrücklicher Weise.
Es sind klingende Namen in Blankenese, aus der Finanzwelt, z.B. die Warburgs, große und kleine Geschäftsleute, wie die Borcherts, Menschen aus Wissenschaft und Kunst wie die Malerin Alma Del Banco, Gretchen Wohlwill, die Dehmels, die Gebrüder Berendsohn und auch kaum bekannte, wie Ilse Silbermann, eine junge Juden-Christin, deren Eltern in der Jerusalem Gemeinde in Eimsbüttel aktiv waren, wo auch ihre Tochter Ilse konfirmiert wurde. Sie alle waren der Verfolgung durch die NS-Behörden preisgegeben. Einigen gelang es, ins Exil zu gehen, wie den Warburgs und Borcherts, andere wurden in sogenannten ‚Judenhäusern‘, etwa am Grotiusweg, konzentriert. Sie wurden von dort aus deportiert und in den deutschen Todeslagern in Tschechien, Polen und im Baltikum ermordet. Heute weißt darauf am Straßenrand ein Denkmal in Form einer Art Laubhütte hin. Tragische Einzelbiographien wie die von Richard Dietrich Hess, der sich von Haus aus jüdisch, für die zweite Ehefrau katholisch taufen ließ, und die seines Sohnes Günthers, sorgsam recherchiert von Friedemann Hellwig, lassen sich hier nachvollziehen. Letzterer hat sich samt seinen Mitstreiterinnen unermüdlich für das Zustandekommen dieser Publikation eingesetzt. Chapeau!
Viele Menschen in Blankenese gerieten in den dunklen Jahren in die Mühlen des grausamen, rassistischen und antisemitischen Regimes der Nationalsozialisten. Am Anfang des Buches gibt es einen historischen Abriss über die sogenannte ‚Machtergreifung‘ und was das für die Menschen in Blankenese bedeutete, nämlich, dass sich das ‚Sozialsystem Nachbarschaft‘ nachhaltig veränderte (S. 49, Frauke Steinhäuser). Auch der Sozialneid der nichtjüdischen Bevölkerung ist wohl ein Element, die welches diese Formen der Ausgrenzung im NS hervorbrachte und noch heute begreifbar macht.
Gut ist, dass es hier auch ums ‚Heute‘ geht. In Interviews aus 2021 kommen aktuell Menschen jüdischer Provenienz zu Wort. So findet Karin Prien, Bildungsministerin in Schleswig-Holstein, und selbst jüdischer Herkunft: „Ich wünsche mir einfach mehr Normalität im Umgang mit jüdischen Menschen.“ (S. 473) Das erscheint nun angesichts des aktuellen Antisemitismus und Israelhasses in diesem Lande als eine nahezu ausnehmend bescheidene Bitte. Ein ‚Nie wieder‘ sollte auch heut in den Erziehungseinrichtungen Kindergarten und Schule sinnvoll vermittelt werden – mehr denn je!
Der vorliegende Band ist ein monumentales Standardwerk von fast 800 Seiten für Interessierte auch aus den Fachwissenschaften. Ein Namensverzeichnis, das Glossar, viele Fotos und Kartenmaterial genügen den Standards. Es ist zugleich eine Würdigung der Geschichte der jüdischen Familien im Hamburger Nobelvorort. Anstoß für dieses Werk gaben letztlich zu Lebzeiten Dr. Martin Schmidt (Politiker) und Sabine Boehlich (Judaistin) mit ihrem Verein zur Erforschung der Geschichte der Juden in Blankenese.
Menschen die plötzlich nicht mehr da waren – Jüdisches Leben in Hamburg-Blankenese, Hrsg. Hellwig, Steinhäuser, Kramer, Bopp, Dölling & Garlitz Verlag, 2024, 784 Seiten, € 38 gebunden.