Editorial MLL

Unser Verständnis von Juden-Christen + Messianischen Juden im globalen Kontext
Bekannte Juden-Christen, die mit Hamburg verbunden waren, sind die Musikschaffenden Felix Mendelsohn-Bartholdy und seine Schwester Fanny Hensel, der Literat Heinrich Heine, der Architekt Martin Haller, Oberlandesgerichtsrat Dr. Arthur Goldschmidt, der Kaufmann und Mäzen Max Emden sowie die Autorin Ingeborg Hecht. Dazu gehörten auch die Fremdsprachenkorrespondentin Ilse Silbermann, in der Jerusalemkirche konfirmiert, in Blankenese gelebt, deportiert aus Altona, mit 24 Jahren 1942 in Auschwitz ermordet sowie der Arzt Dr. Hermann Da Fonseca-Wollheim, der in Altona-Bahrenfeld bis 1943 in seinem Wohnhaus praktizierte, dann im KolaFu interniert und im KZ Buchenwald am 13.05.1944 von der Lager SS ermordet wurde.

Juden-Christen sind eine Gruppe von Verfolgten des NS-Regimes, die fast völlig aus dem Fokus der Öffentlichkeit herausgefallen sind. Es gab sie schon jahrhundertelang zuvor unter anderen kulturellen Bedingungen, z.B. in Spanien und Portugal im 17. Jahrhunderts sowie mit der Flucht vor der dortigen Inquisition dann eben auch in der Türkei, Brasilien, der Karibik, Amsterdam und Hamburgo als Marranos, Conversos oder Christianos Nuevos. Diese Menschen, auch als Krypto-Juden benannt, hatten eine katholisch-jüdische Prägung und eine mediterrane Lebensart.

Im Nationalsozialismus (1933-45) haben die (Groß) Kirchen im sogenannten ‘Dritten Reich’ aufgrund ihrer völkischen Auffassung eines ‘arischen Christentums’ Juden-Christen mitteleuropäischer Prägung ausgesondert, ausgeschlossen, an die NS-Behörden denunziert und damit zum Abschuss freigegeben. Juden-Christen wurden im NS-Staat als ‚Jüdische‘ verfolgt und in Lager deportiert, u.a. nach Theresienstadt und Auschwitz, wo sie als Juden ermordet wurden, auch und gerade wenn sie Christen waren. Der jüdische Pastor der damals irisch-presbyterianischen Jerusalemgemeinde, Dr. Arnold Frank, versuchte mit seiner Gemeinde, dem Antisemitismus entgegenzuwirken. Er und sein Amtsbruder bemühten sich um getaufte und ungetaufte jüdische Personen. Der britische Staatsbürger Frank verschaffte vielen z.T. Papiere für eine Flucht nach England, die er und sein Pastorenkollege Ernst Moser schließlich 1938 selbst antreten mussten.

Im Gegensatz zu jüdischen Gemeinden, die in West-Deutschland nach 1945 in bescheidenem Rahmen durch jüdische Zuwanderer aus Osteuropa und Persien neu aufgebaut wurden, sind die klassischen Gemeinschaften der Juden-Christen nun nahezu aus Mitteleuropa verschwunden.

Gedenktafel ohne Namen der Märtyrer: Jerusalemkirche in Eimsbüttel (ehemals Irisch-Presbyterianisch, heute EKD-Nordkirche)

Die Nachkommen der verfolgten Juden-Christen – ein trauriges Fazit
Experten zufolge gab es in den 1930er Jahren in Österreich und Deutschland mehr als 150.000 Juden-Christen. Viele sind deportiert und ermordet worden! Doch manche haben überlebt, weil sie nicht mehr als ‚Jüdisch‘ bei Behörden und Gemeinden registriert waren, oder im Exil gewesen sind. Die überlebenden Juden-Christen aus der NS-Zeit haben oft die eigene Identität verleugnet und ihren Kindern und Enkeln – um sie zu schützen – nicht überliefert. Dokumente waren nicht auffindbar. Viele Menschen wissen bis heute also gar nicht, dass sie tatsächlich aus einer entsprechenden jüdischen Familie kommen, weil es kompliziert war und immer noch ist. Heute ist der Prozess der Selbsterkenntnis mühsam und wird oft mit Unverständnis und wenig Akzeptanz sowohl seitens der Gesellschaft als auch der ureigenen Familie begleitet. Rechnet man die Zahlen der überlebenden Krypto-Juden hoch, also derjenigen, die sich ihrer Herkunft nicht gewiss sind, könnte es sich in Deutschland heute maximal um ein Prozent der Bevölkerung handeln, das wären ca. 800.000 Menschen.

Jerusalemkirche zu Hamburg (Irisch-Presbyterianisch) Bombenangriff 1942
© Privatbesitz Annemarie Kohl

Juden-Christen, keine Juden mehr, oder doch noch? Einblicke aus Äthiopien und Israel
Nach den halachischen Regeln werden Juden-Christen von Rabbinern offiziell immer noch als Apostaten oder Häretiker, also als Abgefallene, wahrgenommen, obwohl sie jüdischer Herkunft sind. Jüdisch-sein lässt sich bekanntlich nicht allein über die Religion ableiten, sondern ebenfalls über die Abkunft, Ethik sowie Kultur und die ureigenen Familiengeschichten, oft ohne entsprechende Papiere. Die Falascha Mura in Äthiopien (christlich-orthodoxe Juden-Christen ohne Dokumente ihrer jüdischen Abkunft) werden allerdings von der israelischen Regierung als jüdisch anerkannt und ins Land geholt. Der äthiopische Botschafter Hiruy Emanuel gab Ende der 1990er Jahre in Berlin über entsprechende Regierungsverträge zwischen Äthiopien und Israel Auskunft, die eine Ausreise der Falascha Mura aus dem Norden Äthiopiens nach Israel gewährleisteten. So gibt es bis heute Ausreisewellen nach Israel, nicht allein der Falaschas bzw. Beta Israel (äthiopische Juden nennen sich selbst Beta Israel, nicht Falascha, denn das bedeutet Fremde). Es besteht eine andauernde Migration (Alijah) von äthiopischen Juden-Christen (Falascha Mura) nach Israel, die dort als Juden anerkannt werden. Indes wissen wir auch, wie schwer es besonders diese Gruppe von Migranten in Israel heute hat. Tatsächlich leben auch andere Messianische Juden in Israel. Auch diese haben es nicht leicht, es fehlt oft die Verbundenheit der verschiedenen Gruppen untereinander und die Akzeptanz durch offizielle Stellen vor Ort. Im Heiligen Lande ist die Vielfältigkeit der Messianischen Juden mit bis zu 120 Gemeinschaften unterschiedlicher Ausrichtung besonders groß!

Mirjam + Kind, Volk der Beta Israel, Provinz Gondar/Nordäthiopien in 2001

Falaschas + Falascha Mura kamen ab 1979 in mehreren Migrations-wellen nach Israel

Synagoge in den Simienbergen/Gondar

Europa: Anerkennung statt Ablehnung? Kulturelle Auslöschung seit Kaiser Konstantin
Was ist mit den Nachkommen der Juden-Christen bzw. Messianischen Juden in Europa? Wann werden sie von Kirche und Synagoge anerkannt? Über Jahrhunderte wurden Juden nach der zwangsweisen oder freiwilligen Konversion zum Christentum gezwungen, alles Jüdische – also Feste, Gebete, Diäten, Gebräuche und Rituale, abzulegen – um zu beweisen, dass sie gute Christenmenschen seien. Sie wurden von den Staatskirchen wie Heiden behandelt! Dabei ist es geradezu umgekehrt: Kirchen haben viele Gebräuche und den Messias aus dem Judentum entlehnt und die Feste (Sonntag statt Schabbat = Freitag auf Samstag), Ostern statt Pessach und Pfingsten statt Schawuoth verlegt – dem Ursprung entfremdet – dies alles in der Folge des 1. Konzils von Nicäa 325 n. Chr. durch Kaiser Konstantin.

Messianische Juden – wer oder was ist das eigentlich heutzutage?
Nun gibt es heute in Israel, Südamerika, den USA, in England – und auch in Deutschland – die ‚Messianischen Juden‘ in einer großen Vielfalt als absolute jüdische Minderheit. Sie sitzen zwischen den Stühlen der Etablierten aus Kirche und Synagoge. Manche von ihnen besitzen sogar noch Kirchenmitgliedschaften. Andere Messianische Juden bewegen sich von evangelikalem Gedankengut bis hin zur jüdischen Orthopraxis. Sie haben meist einen russisch- oder ukrainisch-jüdischen Hintergrund und kamen in 1990er Jahren aus den post-sowjetischen Staaten wie Russland, Ukraine, Moldawien etc. als Kontingentflüchtlinge nach Deutschland. Als Maschiach (Messias) gilt ihnen nun Jeshua (Hebr.=Errettung) – der jüdische Jesus.

Messianische Juden in Israel entstanden aus der Jesus-People Bewegung (USA)
Foto © Jakob Damkani

Ein moderates Juden-Christentum samt Messianismus fehlt hierzulande fast völlig. MLL ist ein unabhängiger Hamburger Traditionsverein, keine Gemeinde! Wir sind offen und arbeiten auf Spendenbasis! Wir geben Aus- und Einblicke in jüdische und juden-christliche Themen durch Touren und Stadtführungen, Bildungsseminare und interkulturelle Workshops sowie durch unsere Auslegung von Tora & Evangelium am Schabbat. Wir orientieren uns u.a. auch am jüdischen Festkalender! Alle unsere Angebote sind auf dieser MLL-Homepage zu finden, z.B unter “Bildung & KulTour“, “Seminare”, “Veranstaltungen” …! Bitte auch die Lesetipps beachten auf der MLL-Webpage – in der Menuleiste unter der Rubrik “Literaturen“!

Der Vorstand von MLL e.V. Frank Scheerer – Friedrich Quaas – Andreas Birnbaum

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