Nie Wieder ist Jetzt – 9. November 2023

Textfeld:   Nie wieder ist jetzt  9. 11. 2023: Gedenken am Josef-Carlebach-Platz im Grindelviertel an Pogromnacht vor 85 Jahren

Zum Gedenken an die Pogromnacht, als man die Synagogen auf Anweisung des deutschen Staates durch SA angezündet bzw.  unter Aufsicht von deutscher Polizei und Feuerwehr kontrolliert hat abbrennen lassen, waren am Carlebachplatz die letzten Jahre nur ca. 30-40 Leute vorzufinden. Die Stimmung dort im Novembergrau war düster und bedrückend. Dieses Mal kamen auf den Carlebachplatz, der nach Hamburgs letztem Oberrabbiner zur Zeit der Shoa, Josef Carlebach, benannt ist, mehr als 700 Menschen aller Altersgruppen und querbeet aus allen Schichten. Das von Daniel Sheffer, Vorsitzender der Stiftung Bornplatzsynagoge, ausgegebene Motto hieß: ‚Nie wieder ist jetzt‘ und ‚Wir müssen uns nicht verstecken.‘ Das symbolisiert ein neues Selbstverständnis und ein ebenso starkes Selbstbewusstsein der jüdischen Menschen in Hamburg. Cilly Eichengreen (1925-2020), geborene Lucille Landau, eine Hamburger Jüdin, die Auschwitz überlebte und nach dem Krieg nach Kalifornien ging, schrieb mal: „In Hamburg tragen alle Juden ihren Kopf einen Meter unter der Schwelle.“ Das ist nun vorbei!

Trotz des 85-jährigen Gedenkens an die NS-Verbrechen und an die barbarischen Massaker an den Menschen, den Alten, Frauen, Schwangeren, Kindern und Soldaten im Süden Israels am 7. November durch die seelenlosen Hamas-Meuchelmörder, wirkte die Stimmung am 9. November 2023 wie ein euphorisches ‚Trotzdem‘. Das mag auch mit dem Projekt des Wiederaufbaus der Bornplatzsynagoge am Carlebach nach 85 Jahren an besagtem Platz zusammenhängen. Gnädigerweise hat die Stadt Hamburg erst vor kurzem ein ehemals widerrechtlich konfisziertes Teilgrundstück der jüdischen Gemeinde nach mehr als acht Jahrzehnten zurückgegeben. Wie peinlich für die Hansestadt! Deutlich sind die Ausgrabungen zu sehen: aufgeworfene Gruben, kleine Erdhäufchen, Absperrvorrichtungen mit überdeckenden Planen, die wie Baldachine, einer Chuppa gleich, dem Wind und Regen trotzen. Die Rednerliste war ziemlich breit gefächert, Bürgermeister, Vertreter der Zivilgesellschaft, Luisa Neugebauer von Friday for Future, deren Urgroßvater im KZ ermordet wurde, sagte: „Antisemitismus macht sich breit, wo wir nicht dagegenhalten‘. Es kam u.a. Tanja Chawla, eine Rednerin vom DGB aus Berlin und Juliane Seifert, Staatssekretärin aus dem Bundesinnenministerium, ebenfalls Berlin und Dennis Yücel, türkischer Journalist, der unter Erdogan im Gefängnis schmachtete. Bischöfin Kerstin Fehrs brachte den Spruch: „Antisemitismus ist gottlos“. Das hätten sich die Kirchen mal in den 1930er Jahren hinter die Ohren schreiben sollen. Die heutige Nordkirche war damals eine Mordkirche. Die deutschen Kirchenfürsten und Pastoren denunzierten die getauften Juden ihrer Gemeinden an die NS-Behörden, die Mitglieder der jüdisch-christlichen Minderheit wurden als Juden in die Todeslager deportiert und dort ermordet. Schon vergessen? Gemeinderabbiner Bistritzki sprach zum Schluss ein Gebet, Philip Stricharz, Vorsitzender der Jüdischen Orthodoxen Gemeinde Hamburg gedachte der Toten und auch der arabischen Zivilisten in Gaza. Daniel Sheffer moderierte das alles. Wo waren übrigens hier und heute die Vertreter der liberalen Juden Hamburgs? Ausgegrenzt – wie üblich!  

Es sprach auch eine der Überlebenden des Massakers vom 7. Oktober 2023, Lior Katz-Natanson, die ihre Mutter verloren hat und deren Bruder und Schwester mit zwei kleinen Kindern als Geiseln von den Terroristen verschleppt wurden. „Unser Leben hat sich in einen Albtraum verwandelt“. Ihre Großeltern stammen aus Deutschland. Sie zeigte Bilder ihrer Lieben. Fotos der verschleppten Israelis waren auch an einem Gitterzaun zu sehen. Ihr unüberhörbarer Appell lautete: ‚Bring them home!‘

Gedenkkonzert des Jewish Chamber Orchestra Hamburg im ehemaligen Tempel der liberalen Juden

An einem ganz anderen jüdischen Ort in Hamburg gab es ein Gedenkkonzert in Anwesenheit des Kultursenators Carsten Brosda, der mit einer vorgefertigten Rede den Abend eröffnete. Im NDR Rolf-Liebermann Saal spielte das auf 12 Musizierende angewachsene JCO vor fast ausverkauftem Hause. Hier war der ehemalige Tempel der liberalen Juden, der 1932 im Stile der Neuen Sachlichkeit als einzige noch erhaltene Bauhaus Synagoge existiert. Die Außenvertäfelung der Fassade besteht aus Muschelkalkplatten – ein architektonisches und kaum beachtetes jüdisches Juwel Norddeutschlands.

Mit großer Resonanz und als volles Orchester mit wunderschönem Klangkörper spielten die Musiker des JCO unter der künstlerischen Leiterin Natalia Alenitsyna 95 Minuten ohne Pause auf. Noch nie hab ich das JCO so stimmig gehört. Im Wechsel mit Lesungen des Schauspielers, Stephan Kampwirth, bekannt u.a. aus einer Netflix-Serie und von Theaterproduktionen, der relevante Texte vortrug, wurden Stücke von Ullmann, Schulhoff und Eigenkompositionen des jungen und verheißungsvollen Emanuel Meshvinski, Mitbegründer des JCO, intoniert. Dazu gehörte u.a. ‚Romance for String Orchestra‘, dass seinen romantischen Charme unter der Obhut der Musizierenden entfaltete. Herrlich auch die alles durchwebende Akustik im Saal. Zum Abschluss wurde hier nun eine Welturaufführung präsentiert: ‚Left behind‘ – auch dieses eine Eigenkomposition. Emanuel Meshvinski hat sie den Opfern von Antisemitismus und Gewalt gewidmet –  damit waren auch die Ermordeten der Massaker vom 7. Oktober einbezogen. Der junge Kompositeur und Violinist bedankte sich beim Publikum, „dass Sie so zahlreich erschienen sind, obwohl die Angst immer bei uns allen präsent ist.“

Zugegebenermaßen war das Gelände um den ehemaligen Tempel stark durch schwer bewaffnete Polizeikräfte zusätzlich zu den hausinternen Ordnungskräften gesichert worden. Von den liberalen Juden Hamburgs, den Vertretern des Israelitischen Tempelvereins von 1817, war hier leider niemand zu sehen. Wann wird eigentlich dieser Tempel an die Liberalen zurückgegeben?        Jakob Krajewsky